Anforderungen werden konstruiert – nicht ermittelt. Wenn Sie immer noch daran glauben, dass Sie Anforderungen neutral erheben, dann könnte diese Serie Ihnen erschütternde Einblicke gewähren.
Von uns SOPHISTen wissen Sie, dass es bei der Ermittlung von Anforderungen eine Menge von Faktoren zu berücksichtigen gibt. Stichworte wie Kano-Modell und SOPHIST-REgelwerk wecken vielleicht Ihre Erinnerung an ein Training bzw. Ihre Neugierde auf ein Training mit uns.
In dieser Blogserie soll nun ein weiterer Einflussfaktor auf die Arbeit eines Requirements-Engineers skizziert werden: der Konstruktivismus. In diesem ersten Teil der dreiteiligen Blogserie haben wir ausgewählte Aspekte des täglichen Arbeitslebens eines Requirements-Engineers vor dem Hintergrund des Konstruktivismus neu beleuchtet. Neu beleuchten wird der Konstruktivismus im zweiten und dritten Teil der Blogserie die gängigen Ermittlungstechniken des Requirements-Engineering und den Klassiker unter den Ermittlungstechniken, das Interview.
Vom Erfinden
Konstruktivismus ist eine Strömung der Philosophie des 20.ten Jahrhunderts. Die Lehre des radikalen Konstruktivismus geht davon aus, dass die „Welt […] nicht gefunden, sondern erfunden [wird]“.[1] Diese Aussage des Österreichers Heinz von Foerster (1911-2002) verdeutlicht, dass es die eine, objektive oder gar „richtige“ Welt nicht gibt. Falls Sie skeptisch sind und nicht weiterlesen wollen, hier finden Sie den Beweis dafür, dass sich zum einen das Weiterlesen lohnt und dass der Konstruktivismus zum anderen großen Einfluss auf die Anforderungsanalyse hat.
Was bedeutet das nun für die Arbeit eines Requirements-Engineers? Mithilfe ausgewählter Ermittlungstechniken versucht der Requirements-Engineer unter der Berücksichtigung der Projektrahmenbedingungen, Ziele und Anforderungen eines Systems zu erfassen. Das Wissen über Konstruktivismus lässt die Aufgaben eines Requirements-Engineers in einem neuen Licht erscheinen:
Stakeholder plus X
Jeder Stakeholder erfindet – um mit den Worten von von Foerster zu sprechen – Anforderungen. Ermitteln Sie lediglich mit einem Stakeholder Anforderungen, holen Sie sich seine Konstruktion, seine Sicht der Anforderungen ab. Erst die einzelnen Konstruktionen mehrerer Stakeholder ergeben ein vollständiges Set an Anforderungen. Dabei ist es aber entscheidend, dass Sie die Stakeholder einzeln befragen, damit sich die einzelnen Konstruktionen nicht vermischen und jede Konstruktion auch laut geäußert wird.
Requirements-Engineering im Team
Vielleicht haben Sie das Glück und können in einem Requirements-Engineering-Team arbeiten. Wie ein einzelner haben auch mehrere Requirements-Engineers die Möglichkeit, die verschiedenen Konstruktionen, mit denen sie im Laufe eines Projektes konfrontiert werden, abzustimmen. So lösen sie sich widersprechende Konstruktionen auf. Diese Konstruktionen würden im schlimmsten Fall in sich widersprechenden Anforderungen resultieren und die Entwicklung behindern. Ein weiterer, entscheidender Vorteil der Arbeit in einem RE-Team ist, dass nicht die Konstruktion eines Requirements-Engineers ein Projekt bestimmt, sondern mehrere, abgestimmte Sichtweisen zu einem erfolgreichen Projektverlauf beitragen.
Personas[2]
Die Konstruktion eines Einzelnen ist etwas Persönliches und für Außenstehende nicht immer leicht nach zu vollziehen[3]. Mit Personas machen Sie die vielseitigen Konstruktionen in einem Projektteam greifbar. Konstruktionen werden nachvollziehbar und können mittels Personas besser abgestimmt werden. Denn das Abgleichen der verschiedenen Konstruktionen anhand von Personas fällt leichter als das Abgleichen verbalen Gedankenguts.
Personas: Wer ist denn eigentlich mein Kunde?[4]
Anderes Konfliktbewusstsein
Konflikte sind oft festgefahren, weil sowohl Seite A als auch Seite B davon überzeugt ist, dass ihre Sicht der Dinge die richtige, die Wahrheit ist. Wären die Beteiligten Konstruktivisten, würde es ihnen leichter fallen, von ihrer Position, ihrer Konstruktion zurückzutreten und gemeinsam eine Lösung zu finden.
Allem, was ein Mensch wahrnimmt, drückt er seinen eigenen, subjektiven Stempel auf – auch, wenn ihm die Lehre des Konstruktivismus nicht bekannt ist. Wir SOPHISTen sehen im Konstruktivismus einen Grund mehr für professionelles Requirements-Engineering und insbesondere für eine sorgfältige Anforderungsermittlung. Sollten Sie dabei Hilfe brauchen – Sie wissen ja, wo Sie uns finden.
Konstruktivismus im Requirements-Engineering: Ermittlungstechniken und Konstruktivismus (Teil 2)
Konstruktivismus im Requirements-Engineering: Interview und Konstruktivismus (Teil 3)
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Quellenangaben:
[1]Steger, Martin (2008/2009): Komplexität als Herausforderung. Konstruktivismus. http://homepage.univie.ac.at/martin.steger/Handout_k.pdf. Ebenso: http://www.pr-wiki.de/index.php/Main/KonstruktivisMus . Zuletzt am 17.20.2014; Foerster, Heinz et al.: Entdecken oder Erfinden. Wie läßt sich Verstehen verstehen? In: von Foerster (2010).
[2] Für alle Latein-Fans: Ja, richtiger wäre der Plural Personae (vgl. www.duden.de).
[3] Rupp, Chris und SOPHISTen, die: Requirements- Engineering und -Management – Aus der Praxis von klassisch bis agil. Hanser: München 2014. 6., aktualisierte und erweiterte Auflage.
[4] Lombard, Shaun: Geek Portrait. Quelle: iStockphoto.