Ging es Ihnen auch schon so, dass Sie sich zwei Tage nach einer mehrstündigen Besprechung nicht mehr an jede Einzelheit erinnern konnten, die dort besprochen wurde? Bei der Ermittlung von Anforderungen haben wir häufig ein ähnliches Problem. Je nach Ermittlungstechnik werden wir mit einer Vielzahl von Informationen konfrontiert, die unser Gehirn nur eingeschränkt in Echtzeit verarbeiten kann. Audio- oder Videoaufzeichnungen können hier Abhilfe schaffen.
Unter dieser Technik verstehen wir das Aufnehmen von Ton- bzw. Bildinformationen mittels Videokamera oder Audiorecorder während des Einsatzes einer konkreten Ermittlungstechnik, um die dabei gewonnenen Informationen uninterpretiert festzuhalten.
Haupteinsatzgebiet dieser unterstützenden Technik ist das Interview, welches wir einsetzen, um bewusstes Wissen zu ermitteln. Eine nachträgliche Dokumentation des Dialogs aus dem Gedächtnis heraus könnte leicht zu inhaltlichen Verzerrungen führen, und einige Informationen würden völlig verloren gehen. Um das zu verhindern, eignet sich somit eine Aufzeichnung sehr gut.
Besonders wenn es keinen zusätzlichen Protokollanten gibt, ist eine Gesprächsaufzeichnung von Vorteil, sodass sich der Interviewführer ganz auf die Aussagen des Interviewpartners konzentrieren kann.
Bei der Videoaufzeichnung verhält es sich ähnlich. Sie kommt vor allem dann zum Einsatz, wenn es darum geht, komplexe visuelle Abläufe zu erfassen. Ein Beispiel hierfür könnte ein schnell ablaufender Prozess eines Facharbeiters in einer Fertigung sein, der mit dem bloßen Auge nicht detailliert zu erfassen ist. Somit eignet sich ein Videomitschnitt besonders bei Ermittlungstechniken wie Apprenticing [1], Contextual Inquiry [2] oder Feldbeobachtung [3].
Ohne Videoaufzeichnungen entgehen hier dem Requirements-Engineer sehr leicht wichtige Detail-Informationen, die häufig erst durch eine genaue Analyse des Bildmaterials (z.B. durch das Abspielen in Zeitlupe oder mehrfacher Geschwindigkeit) offensichtlich werden.
Egal ob Audio- oder Videoaufzeichnung, die eigentliche Arbeit kommt erst, wenn die Aufnahme beendet ist. Das Material muss analysiert und in Anforderungen an das zu entwickelnde System überführt werden. Besonders bei durch Videoaufnahmen unterstützten Beobachtungstechniken sollten Sie hierfür genügend Zeit einplanen.
Leider muss man sehr häufig ohne den Einsatz dieser unterstützenden Technik auskommen, da ihr Einsatz mit einigen Problemen verbunden ist.
Zum einen ist die benötigte Technik relativ teuer und verlangt einen nicht zu unterschätzenden Aufwand hinsichtlich Vorbereitung, Durchführung und Aufbereitung. Eine Kosten-Nutzen-Analyse fällt daher leicht zu Ungunsten dieser Technik aus. Zum anderen erwecken Aufzeichnungsmedien leicht den Anschein von Überwachung und Verhör. Dies kann dazu führen, dass der Stakeholder aufgrund der Aufzeichnung weniger oder gar falsche Informationen preisgibt, weil er befürchtet, dass die Aufnahme publik werden und ihm schaden könnte (z.B. wenn er während des Interviews Kritik an bestehenden Vorgehensweisen übt). In jedem Fall müssen Sie sich vor der Anfertigung eines Audio- oder Videomitschnitts die Erlaubnis der Betroffenen einholen. Wird dies versäumt, so begeht man eine Straftat die im Fall von Audioaufnahmen (Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes), mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden kann. Falls in dem betroffenen Unternehmen ein Betriebsrat existiert, sollten geplante Aufnahmen auch mit diesem abgestimmt werden. Zu guter Letzt sind in vielen produzierenden Betrieben Bild- und Videoaufnahmen ohnehin grundsätzlich nicht erlaubt.
Sollten Sie all diese Hürden überwunden haben und Audio- und/oder Videoaufnahmen als unterstützende Technik bei der Ermittlung von Anforderungen einsetzen, bietet Ihnen der Markt inzwischen spezialisierte Tools, mit denen Notizen mit Audio- oder Videoaufzeichnungen verknüpft werden können. Deren Einsatz kann die Praktikabilität und auch die Traceability deutlich erhöhen, da dadurch Anforderungen mit den entsprechenden Stellen im Audio- bzw. Videodokument verlinkt werden können.
Für die Zukunft wäre eine Verknüpfung dieser Tools mit Requirements-Management-Tools eine denkbare Erweiterung.
Thema unseres nächsten Beitrags sind Mind-Maps. Eine Technik, die sich inzwischen in vielerlei Branchen für vielerei Tätigkeiten etabliert hat (To-Do-Liste, Projektplanung, Dokumentenstrukturierung, Wissensdokumentation etc). Wie sie uns bei der Ermittlung von Anforderungen unterstützt, erfahren Sie in dem nächsten Teil unserer Serie.
Hier finden Sie die Einleitung der Bloserie „Unterstützende Techniken bei der Ermittlung von Anforderungen“.
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[1] Apprenticing: Der Requirements-Engineer geht beim Stakeholder „in die Lehre“.
[2] Contextual Inquiry: Der Requirements-Engineer beobachtet den Interviewpartner und stellt gezielt Fragen.
[3] Feldbeobachtung: Der Requirements-Engineer beobachtet den Stakeholder, um Anforderungen abzuleiten.