Warum Requirements-Engineering ein paar hundert Jahre zu spät kommt – Teil 2

Vom Elend der Schildbürger ohne das SOPHIST REgelwerk

Nach unserem ersten Ausflug nach Schilda sind wir nun zurück. Und nicht nur wir: Hoher Besuch für das kleine Dörfchen Schilda! Der Kaiser hat sich angekündigt [1]. Er will einfach mal wissen, ob denn die Schildbürger wirklich so dummheitsumwoben sind, wie es im mittelalterlichen Buschfunk behauptet wird. Und so ein Kaiser will natürlich nicht einfach und schon gar nicht irgendwie von seinen Untertanen empfangen werden.Er lässt den Schildbürgern ausrichten, sie sollen ihn „halb geritten und halb zu Fuß empfangen“. Klare Anforderung. Oder doch nicht? Für den Kaiser bedeutet dies: Wer ein Pferd hat, kommt zu Pferd. Wer kein Pferd hat, kommt zu Fuß. Für die Schildbürger bedeutet die Aussage des Kaiser Krisenrat im Wirtshaus! Was ist nur mit dieser Anforderung gemeint? Der Krisenrat kommt nach intensiver Diskussion und eigenwilliger Interpretation zu dem Schluss, dass Steckenpferde gemeint sein müssen. So begrüßen die Schildbürger den Kaiser wie angeblich gefordert halb geritten und halb zu Fuß auf Steckenpferden. Der Kaiser ist irritiert, doch zumindest eine Entscheidung wird ihm damit leichtgemacht: Die Schildbürger bekommen von ihm absolute Narrenfreiheit garantiert.

SOPHIST REgelwerk
Was ist da passiert in Schilda? Eine vom Kaiser einfache (?) Anforderung ist vollkommen missverstanden wurden und hatte einen außergewöhnlichen Empfang zur Folge. Wie hätte ein Requirements-Engineer bzw. ein SOPHIST hier helfen können? Er hätte die natürlichsprachliche Anforderung des Kaisers näher analysiert. Und zwar mit Wissen aus der NLP (Neuro-linguistische Programmierung, entwickelt Anfang der 70er Jahre vom damaligen Mathematikstudenten und späteren Psychologen Rinchard Bandler und dem Linguisten John Grinder an der University of California) hätte er auf Verfahren und Modelle zurückgegriffen, mit denen sich die zwischenmenschliche Kommunikation (und dazu gehört auch die Kommunikation zwischen Kaiser und Schildbürgern) effizienter gestalten lässt. Die folgenden drei Transformationseffekte [2] sind ein wichtiger Ansatzpunkt der sprachlichen Analyse:

1. Tilgung: Indikator für unvollständige Informationen
Geht es um das Prozesswort einer Anforderung, werden häufig wichtige Informationen getilgt. Bei einer Anforderung der Art „Das System muss einen Ausweis drucken.“ sind viele Fragen offen. Und das obwohl die Anforderung sprachlich keinerlei Fehler hat. Antworten auf die Fragen Wo? Wie oft? Wann? usw. werden aber nicht gegeben. W-Fragen sind ein Hilfsmittel um an vollständige Informationen heranzukommen.

2. Generalisierung: Indikator für fehlerhafte Verallgemeinerungen
Ein klassisches Beispiel für Generalisierung ist die Formulierung „Das System muss jedem Benutzer die Möglichkeit bieten, alle Benutzerdaten zu ändern.“ Auch diese Anforderung ist sprachlich korrekt. Auf den zweiten, erschrockenen Blick stellt sich aber die Tragweite dieser Anforderung heraus. Ich als Benutzer kann alle Benutzerdaten von Nutzern, die ich nicht einmal kenne, ändern. Meine Benutzerdaten können ebenso von jedem beliebigen Nutzer geändert werden. Universalquantoren wie „alle“, „jeder“ und „immer“ sind in Anforderungen demnach mit Vorsicht zu genießen. Sie können zu fehlerhaften Verallgemeinerungen führen, die es zu hinterfragen und ggf. zu korrigieren gilt.

3. Verzerrung: Indikator für realitätsverfälschende Aussagen
Nominalisierungen wie „Rückgabe“, „Anmeldung“ oder „Eingabe“ sind eine Verzerrung von Prozessen. Welche Prozesse verbergen sich hinter „Rückgabe“? Beispiel Bibliothek (vielleicht nicht gerade in Schilda): Gibt ein Leser ein Buch zurück, dann wird das Buch auf Herz und Nieren geprüft: ist es rechtzeitig zurückgegeben worden, hat es Schäden, ist es vorbestellt usw. All diese Prozesse werden von der Nominalisierung „Rückgabe“ verzerrt. Nominalisierungen müssen hinterfragt werden, um Prozesse entsprechend der Realität herauszuarbeiten.

Die Schildbürger haben also den ersten richtigen Schritt getan – sie wollten die Anforderung des Kaisers analysieren. Leider fehlte ihnen dazu das richtige Hilfsmittel. Die genannten Regeln sind Teil des SOPHIST REgelwerks. Ein Blick in das REgelwerk lohnt sich, denn es ist ein leicht zu handhabendes und effektives Werkzeug. Damit wäre wohl auch den Schildbürgern ihr seltsamer Auftritt erspart geblieben. Allerdings hätten sie dann auch den nicht Status der absoluten Narrenfreiheit verliehen bekommen. Schon im Mittelalter mussten also Anforderungen bezüglich ihrer Kritikalität abgewogen werden.

Ihren nächsten Klick auf unseren SOPHIST Blog müssen Sie gewiss nicht abwägen. In diesem Sinne bis bald – halb sitzend und halb stehend.

[1] U.a. Wunderlich, Wener (Hrsg.): Das Lalebuch. In Abbildung des Drucks von 1597. Göppingen 1982: Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte. Bd. 87.
Preußler, Ottfried: Bei uns in Schilda – die wahre Geschichte der Schildbürger nach den Aufzeichnungen des Stadtschreibers Jeremias Punktum. 18., Auflage. Thienemann: Stuttgart 1988
[2] Vgl. Rupp, Chris und SOPHISTen, die: Requirements- Engineering und -Management – Aus der Praxis von klassisch bis agil. Hanser: München 2014. 6., aktualisierte und erweiterte Auflage. Kapitel 7. und https://www.sophist.de/fileadmin/SOPHIST/Puplikationen/re6/Kapitel_7/Das_SOPHIST-Regelwerk_10.10.2014.pdf zuletzt am 24.07.2015.

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