Wie meint es der eine und wie versteht es der andere… (V)

Ein eindeutiger und unmissverständlicher Sprachstil hat den Vorteil, dass Sie eine Anforderung fast unendlich detailliert formulieren können, vorausgesetzt Sie beachten ein paar grundsätzliche Regeln (die wir Ihnen hier ja nach und nach näherbringen). Dieses Mal nehmen wir uns Zahl- und Mengenwörter vor, besondere Sorgenkinder des Anforderungsanalytikers. Sie bieten die Möglichkeit, die von einer Anforderung beschriebene Funktion oder Eigenschaften zu präzisieren. Sie können aber leider bei unsachgemäßer Anwendung genau das Gegenteil bewirken. Man vergegenwärtige sich folgendes Beispiel:

„Das Bibliothekssystem muss es jedem Bibliothekskunden ermöglichen, jedes Leihobjekt auszuleihen.“

Diese kühne Formulierung lässt die Annahme zu, dass 1. auch Kinder an die nicht jugendfreie Literatur und Filmsammlung kommen und 2. sich jede angemeldete Person am altehrwürdigen Präsenzbestand der Traditionsbibliothek zu schaffen machen kann.

Das grundsätzliche Problem besteht also darin, dass Zahl- oder Mengenwörter übergeneralisieren und Begriffe, Objekte oder Sachverhalte mit einbeziehen, die nicht dazugehören. Deswegen ist an dieser Stelle Ihr kognitiver Spürsinn gefragt.

 

Natürlich kann auch der umgekehrte Fall auftreten, nämlich dass eine Generalisierung implizit angenommen wird, obwohl überhaupt keine Mengenwörter in der Anforderung verwendet werden. Fehlende Mengenangaben bei einem spezifizierten Verhalten oder Eigenschaft suggerieren dem Leser das Verständnis, das Verhalten oder die Eigenschaft würde für alle Objekte und zu jeder Zeit gelten. Riskante Verallgemeinerungen warten also an beiden Enden einer Mengenwortformulierung. Falls eine Anforderung ohne Zahl- oder Mengenwörter besteht, muss diese also ebenfalls säuberlich geprüft werden, ob sie auch wirklich ohne auskommt.

Erschwerend kommt hinzu, dass neben Mengenwörtern auch Substantive, die in Anforderungen meist die Objekte oder Akteure bezeichnen, pauschalisierende Nebenwirkungen haben. So ist zum Beispiel das Substantiv „Werte“ in einer Anforderung ein häufiger Störenfried, der oftmals für Verwirrung sorgt. Sind mit dem Begriff tatsächlich alle Datenwerte gemeint, die im System vorhanden sind oder bezieht er sich lediglich auf einen bestimmten Bereich innerhalb eines Subsystems?

Da die Möglichkeiten des zu bezeichnenden Sachverhalts fast unerschöpflich sind und der inhaltliche Bezugspunkt dieses Begriffs möglicherweise viele Anforderungen zuvor zu suchen ist, sollten Sie das Substantiv genau präzisieren, also angeben auf welche Werte sich der Begriff in der Anforderung bezieht. Machen Sie sich dazu folgende Regel zu Nutze:

 

Dieser kurze aber hoffentlich informative Ausflug in die mathematikfreie Mengenlehre soll Sie in Zukunft davor bewahren, Anforderungen für die Allgemeinheit zu schreiben und stattdessen das Gefühl in Ihnen wecken, mit einer analytischen Betrachtung Ihrer Anforderung die Objektanzahl festzulegen.

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