Neujahrsorakel und sprechende Tiere

In Polen heißt es, dass der 24. Dezember stellvertretend für das folgende Jahr steht. Wer sich zankt, wird sich das ganze Jahr streiten; wer nicht geputzt hat, wird es das ganze Jahr über nicht sauber haben, und wem an Heiligabend das Essen anbrennt – Sie wissen schon…

Aufgrund dieses traditionellen Glaubens ist der Umgang meiner Familie untereinander an diesem Tag immer besonders (fast schon übertrieben) friedlich und harmonisch.Gemeinsam schmücken wir am Morgen des Heiligen Abends den Weihnachtsbaum (natürlich in absoluter Einigkeit über den Schmuck, denn wer sich an Heiligabend uneins ist, wird im folgenden Jahr… Sie wissen schon.), legen die Geschenke darunter und warten auf den ersten Stern. Denn erst wenn dieser am Himmel erscheint, darf das traditionell fleischlose Essen aufgetischt werden. Eigentlich besteht das polnische Heiligabendessen aus zwölf Gängen (zwölf Apostel, zwölf Monate). In meiner Familie haben wir es auf sechs Gänge reduziert: zwei Suppen, zwei Fischgerichte, zwei Süßspeisen. Allesamt Gerichte, die bei uns nur an diesem einen Tag im Jahr gegessen werden, so dass man spätestens nach dem dritten Gang eigentlich schon pappsatt ist. Dennoch muss jedes Gericht zumindest probiert werden.In Polen steht während dieses Essens immer ein leeres Gedeck auf dem Tisch – für einen unerwarteten Gast oder auch einen Fremden, der an die Tür klopft, denn niemand soll an Weihnachten hungern. Es ist auch ein Gedenken der Verstorbenen und jener, die an diesem Abend nicht anwesend sein können. Meine Eltern sagten immer: für jene, die auf der Reise sind.Nach dem Essen erfolgt die Bescherung, danach geht die polnische Familie traditionell zur Christmette. Wir haben das aufgegeben, seit die Familie sich nicht mehr so oft sieht, und verbringen den Abend gemeinsam zu Hause. Alle potenziellen Reizthemen werden allerdings nicht vor Mitternacht angeschnitten, denn wer an Heiligabend Meinungsverschiedenheiten hat, wird im folgenden Jahr… Sie wissen schon. Es heißt, dass in der Nacht auf den 25. Dezember auch die Tiere sprechen können. Ich kann das nicht bestätigen, denn wir hatten nie Tiere.Mein liebster Brauch allerdings ist das Oblatenbrechen, das direkt vor dem Heiligabendessen gemacht wird. Es handelt sich um rechteckige Oblaten, von der Konsistenz und dem Geschmack her vergleichbar mit Backoblaten, die mit eingeprägten Szenen aus der Bibel verziert sind. In Polen bekommt man sie im Advent an jeder Ecke, wir lassen sie uns immer zuschicken. Jeder nimmt sich eine Oblate, und immer zwei Familienmitglieder stellen sich voreinander. Der eine bricht sich ein Stück von der Oblate des anderen ab und isst es, während der andere ihm sagt, was er ihm für das kommende Jahr wünscht. Dann umgekehrt und reihum, bis alle ihre guten Wünsche ausgetauscht haben. Ich habe diesen alten polnischen Weihnachtsbrauch vor ein paar Jahren mitgenommen und daraus eine Nürnberger Silvestertradition gemacht – schließlich hat auch die älteste Tradition immer irgendwann einen Anfang gehabt

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